Michele Lupo – Die Nacht der lebenden Texte (2025)

Von Andreas Eckenfels

Western // Mit Filmen wie „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ (1962) begann in den Vereinigten Staaten langsam die Ära des Spätwesterns. „The Wild Bunch – Sie kannten kein Gesetz“ (1969), „Rio Lobo“ (1970), „Little Big Man“ (1970) und andere beschleunigten den Abgesang auf dieses uramerikanische Genre. Mit John Waynes letztem Western „Der letzte Scharfschütze“ (1976) dankte dann auch der ewige „The Duke“ endgültig ab. Der Italowestern warf die Flinte hingegen noch nicht so früh ins Korn. Erst Anfang der 1970er ebbte die Westernwelle im Süden Europas allmählich ab. Somit kann man „Der Mann aus Virginia“, den zweiten Beitrag der „Western All’arrabbiata“-Reihe von Plaion Pictures (vormals Koch Films), mit einem Produktionsjahr von 1977 klar der Spätphase des Italowesterns zuordnen.

Verschmähte Kriegsheimkehrer

Wenn Sie keine Arbeit finden, müssen Sie innerhalb einer Woche diesen Staat verlassen! Zahlreiche Südstaatensoldaten kehren nach dem Ende des Sezessionskriegs desillusioniert in ihre Heimat zurück. Doch gut bezahlte Arbeit gibt es nicht, viele Veteranen hungern. Kamerad Willy Preston (Miguel Bosé) hat jedoch bessere Aussichten. Er freut sich, dass der Krieg endlich vorbei ist und er seiner einigermaßen wohlhabenden Familie in Georgia wieder bei der Farmarbeit helfen kann. In einer Stadt lernt Willy den Einzelgänger Michael Random (Giuliano Gemma) kennen, der gerade das Angebot im wahrsten Sinne des Wortes ausgeschlagen hat, ein zugelaufenes Kätzchen an zwei hungrige Soldaten zu verkaufen. Das findet Willy sympathisch, doch mehr, als dass er schon fast überall gekämpft und weder Familie noch Zuhause habe, bekommt er aus dem schweigsamen Mann zunächst nicht heraus. Doch Willy lässt nicht locker. Er überzeugt Michael, ihn auf den Weg zur Farm seiner Eltern (William Berger, Dana Ghia) ein Stücklang zu Fuß zu begleiten. Pferde stehen den Soldaten, die überall wie Dreck behandelt werden, nicht zur Verfügung.

Auf dem langen Marsch treffen die beiden unter anderem auf den angeblichen Journalisten Nelson (Chris Avram) sowie den eiskalten Kopfgeldjäger Rope Whittaker (Raimund Harmstorf) und seine zwei Handlanger (Robert Hundar, Romano Puppo). Bei deren zweifelhaftem Tagewerk gibt es auf den Spruch „tot oder lebendig“ nur eine Option: tot.

Whittakers Handlanger schnappt sich Helen

Erst einige Zeit später kreuzen sich wieder die Wege von Michael Random und Rope Whittaker: Als Michael gerade mit Willys Schwester Helen (Paola Bosé) in der Stadt Einkäufe für die Farm erledigen will, geraten sie ins Kreuzfeuer von Whittaker und seiner Bande. Helen wird kurzerhand entführt. Um herauszufinden, wo sie gefangen gehalten wird, muss sich Michael mit dem Kopfgeldjäger verbünden.

Dramatischer Realismus

Zu den Eröffnungstiteln und der wunderbaren Filmmusik von Gianni Ferrio werden historische Fotografien und Zeichnungen als Hintergrund gezeigt. Es sind Bilder aus dem Krieg: Soldaten mit Kanonen und in den Schützengräben, Männer in ihren Uniformen mit starrem Gesichtsausdruck, Schwarze werden gefangen gehalten, man sieht Leichen von Soldaten. Zwischendrin sieht man Abraham Lincoln mit weiteren Männern vor Zelten stehen, schließlich wird eine Aufnahme eines Forts „lebendig“ und in die erste Szene übergeblendet. Damit zeigt Regisseur Michele Lupo gleich zu Beginn, dass er einem gewissen Realismusanspruch genügen will.

Wenn dann die ersten Bilder der dahindarbenden Südstaaten-Soldaten zu sehen sind, die bei Dauerregen in ihren abgenutzten Uniformen im Schlamm waten und sich ums Essen streiten, ist klar: In „Der Mann aus Virginia“ herrscht kein eitel Sonnenschein. In ihrer Heimat werden die Veteranen aufgrund der Niederlage nicht mit offenen Armen empfangen. Eine kostenlose Kutschfahrt gibt es höchstens für Männer, die einen Orden erhalten haben. Wenn Willy und Michael etwas trinken wollen, muss ihnen die Pferdetränke reichen. Ein für sie gedachtes Brot wird vor ihren Augen in den Schlamm geworfen. Tja, wenn wir gewonnen hätten, wären die anderen jetzt in derselben beschissenen Lage wie wir. Eine Seite hätte es auf jeden Fall erwischt. Pech, dass gerade wir es waren, sagt Willy einmal zu Michael.

Im Drehbuch von Roberto Leoni („Santa Sangre“) sind einige Zitate wie dieses zu finden, die die Situationen punktgenau beschreiben, ohne allzu viele Worte zu verlieren. Da bietet ein reicher Unternehmer, der sich offenbar noch immer einen Sklaven hält, jedem Soldaten Arbeit an. Das Land müsse wieder aufgebaut werden. Was er denn dafür zahlen würde, wird er gefragt. Kostenlose Logis und Essen – und einen halben Dollar pro Woche, antwortet er. Die Soldaten wandern desinteressiert ab, ein älterer von ihnen sagt, was alle denken: Einen halben Dollar die Woche – da haben wir unseren Sklaven zu Hause mehr Taschengeld gegeben. Es zeigt: Einige wollen die bittere Realität offenbar nicht wahrhaben und der Rassismus ist bei den Südstaatlern noch immer nicht aus den Köpfen.

Freundschaft, Zuhause, Liebe

Doch es bleibt nicht dauerhaft so düster und deprimierend. Mit der aufkeimenden Freundschaft zwischen Michael und Willy, die bei einer gemeinsamen und komödiantisch inszenierten Froschjagd endgültig geschlossen wird, heitert sich die Stimmung wenigstens kurzzeitig auf. Michael wird von Familie Preston wie ein zweiter Sohn aufgenommen, hilft auf der Farm aus und öffnet sich Helen. Beide verlieben sich ineinander. Endlich hat Michael das, was er nie hatte: eine Familie, ein Zuhause, eine Liebe.

Doch die Liebe ist nicht der einzige Grund, warum er nach Helens Entführung nicht mehr ruhig sitzen kann. Im Krieg hat er viel Leid miterlebt, diese Idylle, die Michael bei den Prestons erlebt, will er nicht zerstört sehen. Dafür muss er allerdings ein letztes Mal gegen Kopfgeldjäger Rope Whittaker in den Krieg ziehen. In der zweiten Hälfte wandelt sich „Der Mann von Virginia“ vom Drama zum klassischen Rache-Western.

Mit einer Handvoll Experten

Der Italowestern-Veteran Giuliano Gemma („Friss oder stirb“, „Eine Pistole für Ringo“) erweist sich als Idealbesetzung für den schweigsamen Michael Random. Er verleiht der Figur mit seinem Charisma die nötige melancholische Note. 1978 ritt er in „Silbersattel“ noch einmal Richtung Sonnenuntergang. Die Regiearbeit von Lucio Fulci wird gemeinhin als letztes großes Werk des Italowesterns bezeichnet.

Michael Random (r.) setzt sich gegen Kopfgeldjäger Whittaker zur Wehr

Auch der Spanier Miguel Bosé überzeugt als fröhlicher Jungspund Willy Preston, der allerdings im Laufe seiner harten Reise mit Michael seinen Optimismus zu verlieren scheint. Der Sohn von Star-Matador Luis Miguel Dominguín und der italienischen Schauspielerin Lucia Bosé („Fellinis Satyricon“) war zur Drehzeit bereits ein Teenie-Schwarm. Als Sänger hatte Bosé unter anderem mit „Linda“ in Spanien, Italien und Lateinamerika einen großen Hit. Seine Filmschwester Helen ist auch im wahren Leben seine Schwester: Paola Dominguín, die hier noch wie Mutter und Bruder Bosé heißt.

Der erfahrene Regisseur Michele Lupo hatte mit Giuliano Gemma zuvor unter anderem bei „Arizona Colt“ (1966) und dem in Hamburg gedrehten „Ein achtbarer Mann“ (1972) zusammengearbeitet. Nach „Der Mann aus Virginia“ widmete sich Lupo verstärkt der Komödie: Mit Bud Spencer drehte er seine letzten fünf Filme, darunter „Sie nannten ihn Mücke“ (1978), „Der Große mit seinem außerirdischen Kleinen“ (1979) und „Buddy haut den Lukas“ (1980). In den beiden erstgenannten Werken durfte ebenfalls Raimund Harmstorf wie schon in „Der Mann aus Virginia“ gewohnt bärbeißig den Part des Gegenspielers übernehmen.

Für „Der Mann aus Virginia“ kamen eine Handvoll Experten vor und hinter der Kamera für einen letzten Aufgalopp zusammen. Sie inszenierten einen unterhaltsamen und sehr melancholischen Spät-Italowestern, der einige Überraschungen bietet und gleichzeitig klassische und zeitgemäße Elemente des Western virtuos verbindet.

Aus „California“ wird „Virginia“

Die „Western All’arrabbiata“-Reihe bringt Lupos Film erstmals auf Blu-ray in Deutschland heraus. Als Bonusmaterial wurden zwei Interviews übernommen, die damals ebenfalls bei der DVD-Fassung innerhalb der „Italowestern-Enzyklopädie No. 2“ zu finden waren. Warum der frühere deutsche Kinoverleih den Originaltitel „California“ in „Der Mann aus Virginia“ umbenannte, bleibt ein Rätsel. Bookletautor Marco Koch mutmaßt in seinem Text, dies könne mit dem Erfolg von „Die Leute von der Shiloh Ranch“ (1962–1971) zusammenhängen, da in der TV-Serie auch ein Cowboy namens Virginian auftrat. Marco zieht zudem interessante Parallelen zwischen Lupos Western und dem in den 1970er-Jahren beliebten italienischen Polizeifilm, dem Poliziottesco. Kollege Lars Johansen würdigt in seinem Essay die Arbeit des spanischen Kameramanns Alejandro Ulloa und blickt auf die Karriere von Giuliano Gemma zurück, die sich bei weitem nicht auf Italowestern beschränkte.

Plaion Pictures setzt die Reihe zeitnah im September fort: Der dritte „Western All’arrabbiata“-Titel wurde zwar noch nicht offiziell bestätigt. Es soll sich aber um „Von Mann zu Mann“ (1967) mit Lee Van Cleef handeln.

Die Titel der „Western All’arrabbiata“ von Plaion Pictures (vormals Koch Films) haben wir in unserer Rubrik Filmreihen aufgeführt. Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Giuliano Gemma haben wir in unserer Rubrik Schauspieler aufgelistet.

Copyright 2022 by Andreas Eckenfels

Veröffentlichung: 7. Juli 2022 als 2-Disc Edition Digipack (Blu-ray & DVD) in einer quadratischen Hardcover-Box (exklusiv erhältlich im Plaion-Pictures-Online-Shop, 24. Mai 2013 als DVD innerhalb der „Italowestern-Enzyklopädie No. 2“

Länge: 100 Min. (Blu-ray), 96 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Italienisch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: California
IT/SP 1977
Regie: Michele Lupo
Drehbuch: Franco Bucceri, Roberto Leoni, Nico Ducci, Mino Roli
Besetzung: Giuliano Gemma, William Berger, Miguel Bosé, Raimund Harmstorf, Chris Avram, Paola Dominguín (als Paola Bosé), Robert Hundar, Malisa Longo, Dana Ghia, Romano Puppo
Zusatzmaterial: Featurette „Der Drehbuchautor aus Rom“ – Interview mit Drehbuchautor Roberto Leoni (31:02 min.), Featurette „Die Abenddämmerung des Westerns“ – Interview mit Filmhistoriker Fabio Melelli (7:54 Min.), Bildergalerie mit seltenem Werbematerial, englischer Trailer, 20-seitiges Booklet mit Texten von Marco Koch und Lars Johansen, Poster
Label/Vertrieb: Plaion Pictures (vormals Koch Films)

Copyright 2022 by Andreas Eckenfels
Szenenfotos & unterer Packshot: © 2022 Plaion Pictures

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